Die Sonate im Rausch der “Wilden 20er”
Die Sonate im Rausch der „Wilden 20er“
Nie standen die Großformen abendländischer Musik so sehr im Kreuzfeuer menschlicher Gefühlswelt, wie zu Zeiten der globalen Umwälzungen der 1920er Jahre. Die Urkatastrophe des Ende 1918 beendeten Ersten Weltkrieges, welche schon bald darauf den Zerfall eines für Jahrhunderte bestehenden Gesellschafts- und Menschenbildes zur Folge hatte, war musikgeschichtlich von nicht minder entscheidender Bedeutung. Bereits um 1900 begannen einige mutige und entschlossene Musiker, nahezu zeitgleich, dem alten Formideal nach und nach zu entsagen. Interessanterweise vollzog sich dieser Schritt in den Musikzentren der Alten und auch Neuen Welt in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Es herrschte aber trotzdem Einvernehmen darüber, dass die Musik und ihre Rezeption neue Wege einschlagen müsste, da der spätromantische Überbau, spätestens seit Richard Wagner, in eine hoffnungslose Sackgasse geraten.
Die stillen, wie auch lautstarken Protestbewegungen gegen alle starren Formen von Konservatismus, die bereits im „Fin de siècle“ des 19. Jahrhunderts die Wände des Kulturhauses Europa zum Erbeben brachten, sollten bald schon zum Alltag einer neuen Gesellschaft, in welcher unausgesprochene Tabus unmissverständlich ausgesprochen werden konnten. Dies alles sollte zu einer schier endlosen Kette von kreativen Initialzündungen führen, in welcher man alles Artifizielle, Kalte und Technische als wesentlichen Bestandteil menschlichen Lebens, Fühlens und Denkens anerkennt. Die Form der Sonate, die ihren architektonischen Höhepunkt mit Beethovens Klaviersonaten Anfang des 19. Jahrhunderts bereits erreicht hatte, begann, eher zu einem Zerrbild seiner selbst zu werden. Es war nun scheinbar an der Zeit, sich behutsam von diesem sich erschöpfenden Formideal zu verabschieden. Dieses Konzert soll klingend zum Ausdruck bringen, wie sich dieser Abschied in drei verschiedenen Kontinenten der Welt vollzog.
Als Vertreter der neuen Sowjetunion und ihres musikalischen Selbstverständnisses steht Dmitri Kabalewski mit seiner 1927 komponierten Ersten Klaviersonate. In diesem Werk teilt sich dem Zuhörer eine neue Musiksprache mit, welche ihn in eine Welt führt, die von Optimismus, Schaffensdrang, aber auch einem Hauch von schwärmerischer Nostalgie beseelt ist. Der tschechische Komponist Erwin Schulhoff hingegen, welcher mit seiner in den Jahren 1929/30 komponierten „Hot“-Sonate vertreten ist, repräsentiert schon allein durch den Einbezug des damals als „dekadent“ bezeichneten Saxophonklangs ein anderes Extrem dieser Zeit, nämlich den Neigung und hohe Affinität jedweder künstlerischer Exzentrik und klanglichem Eros. Der bewusste Verzicht auf die üblichen italienischen Satzbezeichnungen, welche er hier durch nüchterne Metronomisierungen zu ersetzen sucht, deutet darauf hin, dass der Sonatentypus hier bereits eine Wandlung erlebt, um in einem neuen, exotischeren Gewand zu erscheinen. Hierbei schafft es der Komponist auf mitreißende Art und Weise, das etwas aus der Mode gekommene Formideal der klassischen Sonate mit den aus Amerika importierten, rhythmisch reizvollen Tanzformen, wie etwa dem Foxtrot, Blues oder Swing zu verbinden.
Das Nordamerika der “Neuen Welt” führte seit seiner Gründung im Jahre 1774 ein isolationistisches Dasein, sowohl in gesellschaftspolitischer, als auch in musikgeschichtlicher Hinsicht. Erfüllt vom “American Dream”, sah sich der Nordamerikaner in seiner Gesellschaft gewissermaßen als Teilhaber eines rasanten und vorrangig kapitalistisch motivierten Fortschrittdenkens. Ungeachtet aller Konventionen und kulturellen Wertvorstellungen der “Alten Welt”, erschuf sich die “Neue Welt” eine ebenso neue kulturelle Szene, in welcher es von Anbeginn keinen echten Tabubegriff geben sollte. Für die Musiker und Komponisten dieser Breitengrade bedeutete dies eine naturgemäße Andersartigkeit, eine unakademische Auffassung von musikalischer Form und Faktur. George Antheil, ein viel zu spät bekannt gewordener, jedoch wichtiger Komponist dieses Landes ist mit seiner 1922 komponierten “Sonatina” vertreten. Dieses recht kurze, 5-teilige Werk läßt den Zuhörer schon durch seinen bemerkenswerten Untertitel “Death of the machines” erahnen, was ihn klanglich erwartet. Es geht hier am wenigsten noch um eine adäquate Darbietung einer intellektuell durchdrungenen Großform: die “Sonatina” präsentiert eher das fatale Szenario einer technokratischen Welt, welche sich der menschlichen Kontrolle allmählich entzieht.
Die Violinsonate Maurice Ravels entstand im Zeitraum zwischen 1923-27 und gehört somit zum Spätwerk des Komponisten. Neben einer bereits 1897 entstandenen Violinsonate, ist dieses Spätwerk in seiner heterogenen, ja bisweilen spröden und kantigen Klangsprache eine weiteres Beispiel für den französischen Umgang mit der Sonatenform. Die Entstehung dieses Werkes fällt mit einem längeren Amerika-Aufenthalt Ravels zusammen, in welchem er erstmals die Musik der Farbigen Einwohner des Landes hörte. Bei seiner Rückkehr wollte er diese Eindrücke nun musikalisch verarbeiten und wählte hierfür zwei Instrumente, welche er selbst als “unvereinbar” bezeichnete. Die 3-sätzige Sonate beweist in ihrer sprunghaften und gefühlsextremen Natur den stetigen Transformationsprozeß der Sonate dieser Zeit. Den sehr verhaltenen und impressionistischen Klängen des Kopfsatzes folgt ein magisch-düsterer Blues: Ravels Antwort auf eine aufkommende Mode seiner Zeit. Im Finalsatz, welcher als “Perpetuum mobile” bezeichnet ist, beschwört der Komponist schließlich das selbstgewählte Schicksal des sich bald in der Unerbittlichkeit der Maschine verlierenden Individuums.
Die im Jahre 1926 entstandene Klaviersonate Béla Bartóks zeigt, dass auch innerhalb einer erweiterten Tonalität, welche eher Klangzentren, denn tonale Verhältnisse bevorzugt, möglich ist, alle musikalischen Ereignisse in ein klares, kompaktes Form- und Zeitschema zu pressen. Als gebürtiger Ungar fühlte er sich zeitlebens der ungarischen, wie auch der restlichen osteuropäischen Folklore verpflichtet. In dieser Sonate experimentiert er damit, die Zuhörerfahrungen aus der komplexen Folkloremusik in ein möglichst einheitliches Gerüst einzubauen. Die rudimentäre, beinahe schon primitive Gewalt der beiden Ecksätze wird nur scheinbar gemildert im langsamen zweiten Satz, welcher mit seiner seltsam hypnotisch und karg anmutenden Lyrik der Sonate eine erschreckende Konsequenz verleiht. Die transparente Architektur dieses Werks scheint jedoch unauslöschlich mit einem neuen Selbstbewußtsein verknüpft zu sein, willens, dem Zuhörer auch diese Musik gegenwärtig zu machen.
(Nageeb Gardizi)