Sergej Prokofjew (1891-1953)

Der junge Prokofjew und das Konservatorium

Sergej Prokofjew ist einer der großen Komponisten der russischen Musikgeschichte.

Ausgestattet mit einem enormen Selbstbewusstsein und viel geistiger wie auch körperlicher Agilität, brachte der junge Prokofjew schon als Kompositions- und Klavierstudent seine Lehrer am St. Petersburger Konservatorium auseinander. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs trat er nun an, ein großer Komponist zu werden. Seine Konservatoriumsjahre (1904-14) sollten sich für seine spätere Musikauffassung und sein musikalisches Weltbild als entscheidend auswirken. In diesen 10 Jahren experimentierte er vor allem mit dem Klavier. Als exzellenter Interpret seiner eigenen Klavierwerke nahm er später die klanglichen Erfahrungen in sein frühes Schaffen wahr und setzte sich ebenso für die damalige musikalische Avantgarde (Schönberg, Berg, Skrjabin) ein.

Opus 1, seine erste veröffentlichte Klaviersonate aus dem Jahre 1909, scheint noch etwas dem Gestus und der Gefühlswelt der Spätromantik des 19. Jahrhunderts beizupflichten. Prokofjew selbst urteilte über seine „romantische Phase” als „Klavierliedchen”, die er bis dahin in einer Vielzahl komponierte, abschloss. Abgesehen von der 1-Sätzigkeit der Sonate, gehorcht sie überwiegend dem üblichen formalen Aufbau eines typischen Sonatenallegros, in dem die immanenten Konfliktstrukturen im Verlauf der Komposition sich zusehends ineinander zu verschränken beginnen, so dass sie nicht mehr als echter Gegensatz zueinander erscheinen, sondern sich auf wunderbar harmonisch-melodiöse Weise ergänzen

Es ist sein op. 2, das die zweite und wohl markanteste Phase seines musikalischen Schaffens einleitet. Die 4 Klavieretüden aus dem gleichen Jahr sind in ihrer Grundhaltung von erheblich rebellischer und teilweise aggressiver Natur. Dem Hervorbringen „machtvoller Empfindungen”, wie Prokofjew seine erste kompositorische Phase selbst benennt, kommt schon die erste Etüde in ihrer von Kraft und Energie strotzenden Haltung am nächsten. Die zweite Etüde bietet den ruhigen und elegischen Kontrast, in dem er auf sehr raffinierte Weise den metrischen Konflikt beider Hände zueinander mit einer weit ausschweifenden Daumen-Melodie kombiniert, ohne dabei auf ein gewisses russisches Pathos zu verzichten. Die dritte Etüde ist formal und motivisch gesehen die komplexeste dieser Gruppe. Hier schafft er es auf sehr eindrucksvolle Weise, aus dem düsteren Anfangsmotiv ein sich dahin windendes Perpetuum zu erzeugen, in welchem gerade dessen Kombination mit der melodische Anfangsstruktur (wieder als Daumenmelodie) nicht zuletzt den technischen Aspekt der Ausführung dieser Etüde umso interessanter macht. Neben der ersten Etüde ist sie von einer eigentümlichen Dramaturgie durchsetzt, die stilbildend auch für seine späteren Werke ist. Die letzte Etüde kombiniert einen ostinaten fast starren „Walking-bass” in der linken mit einer recht kühn daherstolpernden rechten Hand, welche im Verlauf einige Kapriolen schlägt, um in einem brillanten Schluss dieses beeindruckend frühe Opus enden zu lassen.

Die 4 Klavierstücke, op. 4 entstanden im Jahre 1908 und wurden drei Jahre später nochmals revidiert. Diese Stücke lassen bereits den von Hörern wie Pianisten gefürchteten Diaboliker Prokofjew hervortreten. Trotz der bisweilen an Schumann und die Romantik erinnernde Titulierung (“Erinnerung”, “Aufschwung”) heben sich die letzten beiden Stücke in ihrer intensiven, fast brachialen Klangnatur auf extreme Weise ab. Vor allem im letzten Stück (“Teuflische Einflüsterung”) offenbart sich eine neue, harte, jedoch von jugendlicher Energie durchdrungene Klangsprache, das seine Zeitgenossen zurecht verstört haben muss.

Dass der Komponist ebenso im lyrisch-verhaltenen Ton schreiben konnte und wollte, zeigen die 1910/11 entstandenen “Deux Poémes”, op. 9. In diesem Werk finden Gedichte des von Prokofjew hochgeschätzten Dichters K. Balmont und A. Apuchtins ihre Vertonung. Mit Balmont verband ihn eine lange persönliche Freundschaft. Im Opus 9 befasst er sich im großen Format mit der menschlichen (Frauen-)Stimme. Beiden “Poémes” haftet etwas jenseitiges und phantastisches an. Hierbei schafft es der junge Komponist auf eindrucksvolle Weise, mehr als nur eine bloße sylabische Vertonung eines bestimmten Textes wiederzugeben: er erzählt dem Zuhörer eigentlich eine neue Geschichte, die in ihrer tiefgründigen Gefühlswelt erahnen lässt, von was für einem hohen Maß an einfühlsamen Lyrizismus dieser junge Mann erfüllt gewesen sein muss.

Die im Jahre 1912 komponierte “Toccata”, op.11 (lat. toccare: schlagen) markiert einen ersten Meilenstein in Prokofjews Klavierschaffen. Inspiriert durch das eigene Studium der gleichnamigen “Toccata” Robert Schumanns, ist dieses knapp 5-Minütige Werk neben der “Teuflischen Einflüsterung” aus op. 4 eine echte Feuerprobe für jeden Pianisten. Die Unerbittlichkeit und stellenweise primitive Rohheit und Härte in Melodik, Harmonik und vor allem Rhythmus lässt schon das Grauen des Ersten Weltkrieges aufkommen. Mir diesem Werk wurde Prokofjews Musik noch lange kategorisiert als der Komponist von brutaler Kakophonie, das skrupellos alle Gesetze der Schwerkraft und des Schönklangs missachtend, sich im Sumpf verliert. Als jungen Mann interessierte ihn die Meinung der Musikkritiker, Professoren und Freunde nur dann, wenn sie uneins waren. Insofern kann seine “Toccata” als ein erster Höhepunkt seiner Klavier-Experimente angesehen werden, die in seinen späteren Konzerten oft geschätzt wurde.

Die Zweite Klaviersonate, op. 14 entstand im selben Jahr wie die “Toccata”, wurde jedoch erst 1914 vollendet. Im Gegensatz zu seinem op. 1 zeigt sie nunmehr eine ausgereifte, zugleich aber auch sparsamere Klangwelt des Komponisten. Form, Symmetrie und eine komprimierte Faktur gehen hier einher mit schmerzvollen Gefühlswallungen, wie etwa im langsamen Satz des insgesamt 4- Sätzigen Werkes. Wo sich die beiden Ecksätze in einer Kombination aus jungendlichem Elan, bittersüßer Melancholie und fast giftigem Humor präsentieren, stellt das “Scherzo” wieder den “bösen Jungen” heraus. Ursprünglich als ‘Hausaufgabe’ für seinen Harmonielehre-Kurs eingereicht, überarbeitete und polierte Prokofjew dieses kleine Stück, um es dann in diese Klaviersonate als energiegeladenes und rhythmisch straffes “Scherzo” mit einzubeziehen. Dramaturgisch gesehen steht sie vor dem eigentlichen Höhepunkt dieser Sonate, dem langsamen Satz, welcher im Andenken an den frühen Freitod seines mit ihm eng befreundeten Komilitonen Maximilian Schmithoff komponiert wurde. Hier zeigt sich nochmals Prokofjews große und spezielle Affinität zur weitausschweifenden Melodik und Gefühlstiefe, welche er hier wiederum klangvoll erprobt. Als eines der letzten großen Werke seiner Konservatoriumszeit, kann die Zweite Klaviersonate als das großformatige Werk gesehen werden, durch die er immer mehr zu seinem eigenen Personalstil und

seiner Klangsprache findet. Eingebettet in einer überwiegend konservativen und ängstlichen Gesellschaft, welche von Archaik und Mystizismus geprägt war, brach er in gewisser Weise schon mit seinem op. 2 mit diesen Konventionen und ging seinen eigenen Weg. Die Unerschütterlichkeit seines Willens, seine lebensbejahende Energie, sowie sein äußerst intelligenter und zugleich einfühlsamer Umgang mit der Form in der Musik ließen ihn wachsen und rasch über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt werden.

(Nageeb Gardizi)