Alexander Skrjabin

Alexander Skrjabin – der Klangmystiker

Die 10 vollendeten Klaviersonaten des russischen Komponisten Alexander Skrjabin (1872 – 1915) gehören zu den eigentümlichsten und ehrgeizigsten Verlautbarungen an der Schwelle vom 19. Zum 20. Jahrhundert. Ausgehend und zunächst auch musikalisch inspiriert von Salonkomponisten wie Franz Liszt und Frédéric Chopin, vollzog sich seine Entwicklung als Tonsetzer in erstaunlichem Maße im Einklang mit einer notwendigen Selbsterkenntnis, welche in der Spätphase seines Lebens zum hauptsächlichen Inspirationsquell wurde. In der glücklichen Personalunion von Komponist und Pianist verstand er es wie kaum ein anderer für das Klavier zu schreiben. Schon in seiner ersten veröffentlichten Klaviersonate (op.6) aus dem Jahre 1893 zeigt er dem Zuhörer unmissverständlich, worum es ihm in seinem Schaffen geht: die Darstellung des Dualismus von übergeordneter menschlicher Willenskraft als Keimzelle allen menschlichen Strebens und den Dämonen, den schwarzen Schatten, welche ihn an seiner Entfaltung hindern wollen. Es war vor allem die Großform der Sonate, welche ihm den Rahmen für solche „Klangpsychogramme“ lieferte. Man kann sagen, dass er mit jeder weiteren Klaviersonate psychisch und physisch in den oberen Luftraum vordringt und alles Materielle dabei in rasanter Geschwindigkeit hinter sich lässt. Das letzte halbe Dutzend der Klaviersonaten markiert diesen Vorstoß in sehr charakteristischer Weise. Kraft seiner enormen Kenntnis des Klavier und seiner offensichtlichen und auch versteckten Möglichkeiten als umfassenden Klangkörper, erschließt er diesen Klangraum spätestens ab dieser Schaffensperiode und schreibt nur noch „scheinbare“ Klaviersonaten, in welchen die Form eindeutig und unweigerlich mit der Entwicklung einer einzigen motivischen Keimzelle verknüpft ist und sie alle positive wie auch negative Energie aus ihr gewinnt.

Skrjabins Klaviersonate Nr. 5 Fis-Dur, op. 53 aus dem Jahre 1907 markiert diesen Vorstoß in sehr eindrucksvoller Weise. Sie ist zugleich die erste Sonate, in der er bestrebt ist, die vormals klassischen Tempoindikationen nunmehr als Bestandteile eines quasi „inszenierten“ Musiktheaters zu verwenden. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass es sich bei den späten Sonaten noch mehr um eine Art „Schöpfungsgeschichte“ handelt, in welcher das Werden und das Vergehen allen Lebens aus der Sicht des „Protagonisten“ dargestellt wird, welcher mit fortschreitender Zeit an der Überwindung seiner menschlichen Schwächen durch ekstatische (Klang-)Ereignisse zu einem neuen, einem besseren Menschen wird. Der innere Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen ekstatischer Verzückung und apokalyptischer Vorahnung wird vor allem in den Klaviersonaten Nr. 7, op. 64 (entstanden 1911/12), sowie Nr. 9, op. 68 (entstanden 1912/13) deutlich. Die Titulierung beider Sonaten als „Weiße Messe“ und „Schwarze Messe“, welche vom Komponisten stammt, lässt auf seine stetige Abkapselung von seiner äußeren musikalischen Umwelt schließen.

Sein Klaviersatz ist so weit fortgeschritten, dass bis zu vier Systeme nötig sind, um diese neue Sinnlichkeit akkurat zu formulieren. Die physischen wie auch psychischen Anforderungen sind nunmehr auf ein Übermaß herangewachsen, so dass seinerzeit eigentlich nur er selbst in der Lage war, seine neuesten Klavierwerke in angemessener Weise zu interpretieren, was durch einige historische Aufnahmen eindrucksvoll dokumentiert ist. Zeitgenossen Skrjabins schrieben verächtlich über ihn, er habe sich für immer im selbstverschuldeten „Klangdickicht“ verloren, jedoch interessierten ihn andere Meinungen wenig. Sein zunehmendes Interesse für Klangmystik und den Buddhismus gingen sogar so weit, dass er eine große Indien-Reise plante, welche sein frühzeitiger Tod jedoch verhinderte.

Skrjabins Klaviersonaten gehören nicht zu Unrecht zu den Meilensteinen der Klaviermusik und der abendländischen Musikgeschichte überhaupt. Der so genannten „Russischen Schule“ entwachsen, präsentiert Skrjabin in jeder einzelnen Sonate „seine“ Sicht der Schöpfungsgeschichte, in welcher das Individuum Mensch am Für und Wieder seines Menschseins wächst, um schließlich Teil eines allumfassenden Zustandes grenzenloser Verzückung zu werden. Für ihn war dies allein der Ausweg aus dem naturgegebenen Ungleichgewicht zwischen Körper und Geist. Durch sein ureigenstes Instrument, mit dem er in Lebzeiten zu verwachsen schien, hat er der Klaviermusik ein äußerst lebendiges Zeugnis davon hinterlassen, was er zeitlebens von der Welt erwartete und wie nur er imstande war, sie zu lieben und zu leben.

(Nageeb Gardizi)